Donnerstag, 13. Juni 2013

Verweigerung und Belohnung



„Rico! Riiico!“schallt es heute aus dem Mund einer entnervt dreinblickenden Frau, die ich auf dem Weg zum Bankautomat traf. „Riiico!“
Sind wir hier in Berlin? Was ist denn das für ein Proletentum den halben Wohnblock nach seinem renitenten Gör zusammen zu grölen?

Es handelte sich aber nur um das übliche „ich-bin-der-Nabel-der-Welt“-Syndrom, unter dem so viele junge Mütter leiden. 
Rico hockte 50 m weiter auf einem Mauervorsprung und tat völlig ungerührt, während Muttern mit 120 Dezibel seinen Namen schrie und der ältere Bruder wüste Drohungen ausstoßend in das Gegröle einstimmte.
Als ich mit den Taschen voller Geld zurückkam, hatte sich an der Szenerie rein gar nichts geändert. Ich stieß zunächst auf den circa zweijährigen Rico, der völlig entspannt seine Fingernägel untersuchte, während sich seine Erzeugerin einen Block weiter mit ihrem „Rico! Riiiico!“-Gekreische in der Nachbarschaft beliebt machte.
Leute gibt’s! Ich würde gern wissen, ob eine der angedrohten Strafen abends eintrat.
Vermutlich nicht, denn Rico schien genau um die Inkonsequenz des grölenden Duos zu wissen.

Ich stelle mir vor wie sich die gleiche Szene schon einmal im Jahr 1956 im Berlin-Brandenburgischen Dorf Quitzow abspielte.
 Damals schrie sich Herlind Kasner die Seele aus dem Leib, während die kleine Angela sich entspannt in Totalverweigerung übte.
Schon von frühester Kindheit an wird die spätere Bundeskanzlerin gelernt haben, daß man mit passiv-aggressiver Untätigkeit erfolgreich seinen Willen durchsetzen kann.
Merkel hat die taktische Arbeitsverweigerung zu einer politischen Strategie promoviert.
Sie weicht jeder Konfrontation aus und weitet die 2009 erfolgreiche „asymmetrische Demobilisierung“ bis in absurde Ausmaße aus.
Von Mietpreisbremse über Homogattensplitting zu sozialen Wohltaten: Alles was Sozis oder Grüne ankündigen, will Merkel angeblich neuerdings auch. 
So entfällt die Motivation der Gegner von Schwarzgelb zur Wahl zu gehen und die Kanzlerin kann im Amt bleiben.
Sie reagiert lediglich und auch das nur nach gehöriger Zeitverzögerung. Niemals würde sie voran gehen, niemals agieren.
Grüne, Linke und Sozis beißen sich an ihr noch nicht mal die Zähne aus, weil sie so amöbenartig amorph ist, daß man sie gar nicht zu fassen bekommt.

Steinbrück und Co sind tragische Gestalten, weil sie mit der einzig verbliebenen Wahlkampfmethode, nämlich eigene Themen zu setzen und dem Wähler Pläne und Konzepte vorzulegen, stets auf taube Ohren stoßen.
Die Wähler sind nämlich wie die Rico-Brüllerin von heute Morgen.
 Sie verlangen zwar lautstark das Balg/die Kanzlerin möge sich endlich bewegen, aber wenn es das nicht tut, haben sie es trotzdem noch lieb und sind ihm nicht böse.

Hat irgendeiner in dieser extrem schwierigen weltpolitischen Lage mit den Megaproblemen in Nahost, der Türkei, Nordafrika, der EU oder Afghanistan überhaupt bemerkt, daß die SPD und ihr Spitzenkandidat ein ausgefeiltes außenpolitisches Konzept vorgelegt haben?

Die Süddeutsche Zeitung kommentierte die Sozi-Pläne am 05.06.13 mit der Überschrift „Klar und Respektabel“. Da weiß der Urnenpöbel was er zu erwarten hätte.
Nur – es interessiert keinen.
Sie mögen lieber Merkel – und zwar mit riesigem Abstand vor Steinbrück.
Merkel, die dem SPD-Konzept das große Schweigen entgegensetzt.
Das betrifft nicht nur die klassische Außen- oder internationale Finanzpolitik, sondern ALLE Politikfelder.
Die Kanzlerin verweigert nicht nur ihre Arbeit und Politik im Allgemeinen; nein, inzwischen verweigert sie sogar den Wahlkampf.
Die Parteien-Demokratie sollte so funktionieren, daß man sich im Wahlkampf profiliert, um die Unterschiede zwischen den Parteien herauszuarbeiten.
Merkel tut aber das diametrale Gegenteil und nivelliert die CDU.

In der Praxis funktioniert ein solcher Wahlkampf aber nur, wenn sich keine Partei wegduckt. Umso ärgerlicher ist es, dass die CDU immer noch in ihrer Ecke steht.
SPD, Grüne und FDP haben ihre Wahlprogramme längst verabschiedet. Die Union hat noch nicht einmal einen Entwurf präsentiert. Das führt zu skurrilen Szenen: In Talkshows wehren CDU-Politiker Angriffe schon mal mit dem Hinweis ab, man könne sie noch gar nicht kritisieren, weil ihr Programm noch unbekannt sei.
Die CDU-Spitze lässt aber nicht nur die Bürger im Unklaren, sie ignoriert sogar ihre eigenen Vorstandsmitglieder. Am 23.Juni wollen CDU und CSU ihr gemeinsames Wahlprogramm endlich verabschieden. Es soll nicht von Parteitagen, sondern nur von den Vorständen beschlossen werden. Schon das ist beklagenswert. Doch selbst die CDU-Vorstandsmitglieder haben bisher keinen Entwurf des Programms erhalten. Ihre Meinung ist offenbar nicht gefragt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Partei zum Kanzlerinnen-Wahlverein verkommen ist: hiermit wäre er erbracht.
(Robert Rossmann, SZ vom 12.06.2013)

Demokratietheoretisch ist Merkel ein Alptraum.
Aber sie ist auf dem besten Wege wieder gewählt zu werden.
Dem Urnenpöbel gefällt das Vage.